Pressespiegel
"Abgerippt" -Zeitreise zu den Frankfurter Gangs
Die Ausstellung "Abgerippt" behandelt die Frankfurter Jugend- und Gangkultur in den achtziger und neunziger Jahren.
Bomberjacke, Hiphop und Baseballschläger waren wichtige Elemente der Frankfurter Jugendgangs, die sich vor 30 Jahren formierten und später rivalisierten. Was damals als Schrecken der Straßen galt, wird nun erstmals in einer Ausstellung aufgearbeitet.
"Abgerippt" ist ein Begriff aus der Sprache von Straßengangs in den achtziger und neunziger Jahren. Das Wort bedeutete, dass ein Gangmitglied eine Trophäe erbeutete, auf offener Straße teure Jacken oder Schuhe raubte, Statussymbole, die sonst unerreichbar waren. Abrippen gehörte zum Alltag der Gangmitglieder - wie Drogen oder später auch Straßenkämpfe.
Mit der künstlerischen Ausstellung "Abgerippt" im Pavillon der Friedrich-Stolze-Schule in Frankfurt in Nachbarschaft zum Justizkomplex präsentiert der Frankfurter Künstler Oğuz Şen die Gangkultur als ein Phänomen der Zeit, und zwar aus der Perspektive eines Insiders. Er selbst war Mitglied einer Bornheimer Gang, bis er mit 17 Jahren aus der Szene ausstieg. Heute betrachtet er die damalige Jugend- und Gangkultur als Teil der Geschichte Frankfurts.
"Abgerippt" - Gangkultur in Frankfurt
Damals ahmten die Jugendlichen die in den Vereinigten Staaten stark verbreitete Gang- und Hiphop-Subkultur nach. Von den achtziger Jahren bis in die neunziger Jahre hinein entstanden in verschiedenen Frankfurter Stadtvierteln Jugendbanden. Identitätsstiftend war dabei vorrangig das jeweilige Stadtviertel und ein Gefühl von Solidarität. Damit wollten sie sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der sozialen Mittel- und Oberschicht abgrenzen.
Gruppenfotos als Wandposter
Im Schul-Pavillon sind die Wände den Gangs gewidmet, die viele Jahre lang in Frankfurt berüchtigt waren. In kunstvollen Graffitis prangen die Namen der Gangs - wie Amigos, Lamina, TPB Bornheim (Turkish Power Boys), Le Mur oder Club 77 - dem Betrachter entgegen. Es sind die großen Frankfurter Gangs, die auch im Leben von Şen eine wichtige Rolle spielten.
Insgesamt sind in beiden Räumen rund 60 Fotos ausgestellt. Die grobkörnigen Vergrößerungen sind rahmenlos wie Poster direkt auf die graue Wand geklebt und erinnern daran, wie Jugendliche damals ihre Idole aus Film und Musik in ihren Zimmern verehrten.
Die Fotos zeigen überwiegend kleine oder größere Gruppen von Gangmitgliedern, die oft aus Gastarbeiterfamilien stammten und heute zu den Migranten der zweiten Generation zählen. Auf Informationen oder Kommentierungen der Fotos verzichtete Şen bewusst. "Es geht um eine ästhetische Frage", erklärt der Künstler. "Ich finde, ich muss mich zu keinem der Bilder äußern, denn sie sprechen für sich."
Viele Gangmitglieder leben nicht mehr
Unter den präsentierten Fotos sind nur vereinzelt Schnappschüsse dabei. Auf den gestellten, meist statisch wirkenden Gruppenfotos haben sich die Gangmitglieder verewigt, vor allem in betont lässiger Pose, mal vor einer Wand mit Schriftzügen wie "Ausländer-Bezirk", mal vor einem Häuserblock. Es sind Orte, an denen sich die Gangs trafen und "abhingen". So auch in der B-Ebene der Hauptwache oder in der U-Bahnstation Seckbacher Landstraße. Auffallend ist, dass die Gesichter selten Heiterkeit oder Unbeschwertheit spiegeln. Vielmehr versuchen sie, Stärke und Überlegenheit zu zeigen.
Dass die Aufnahmen vor 20 und mehr Jahren entstanden, wird nicht durch nur die Mode der Zeit deutlich. Auch die Grobkörnigkeit der Vergrößerungen und somit die mangelnde Schärfe der Fotos vermitteln eine zeitliche Distanz. Dennoch sind auf ihnen nahezu alle Gesichter durch schwarze Balken über den Augen anonymisiert - aus Respekt, wie Şen erklärt. "Das sind Menschen, die einfach nicht mehr leben", so Şen, "weil sie durch Drogen oder Gewalttaten ums Leben kamen. Ich hatte nicht die Möglichkeit, sie zu fragen und um Erlaubnis zu bitten." Passend dazu wird als Ausstellungsbegleitung der schwarze Augenzensurbalken zum selbst Aufsetzen mit einem Gummiband verteilt. Wer will, kann ihn aufsetzen.
Wie sehr die Frankfurter Gangkultur von US-amerikanischen Filmen und der Hiphop-Kultur geprägt war, zeigen drei Kult-Filme aus den achtziger und neunziger Jahren, die in einem alten Fernsehgerät laufen und deren Filmplakate an einer Wand hängen. Ergänzend dazu läuft in einem weiteren Fernsehgerät eine Videoaufzeichnung, die eine Gruppe von Gangmitgliedern zeigt. Die Jugendlichen vertreiben ihre Zeit in einer U-Bahnstation. Einer von ihnen tanzt immer wieder Breakdance, während andere ihre Freundinnen umarmen.
"Wollte Menschen zusammenbringen"
Für den 33 Jahre alten Oguz Sen ist die Ausstellung gleichzeitig eine Form der künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Der Verlust eines Bruders, der gestorben war, und eines weiteren Bruders, der für zwölf Jahre ins Gefängnis kam, waren für ihn einschneidende Erfahrungen. "Mein Bruder Kerim, war künstlerisch mein größtes Vorbild, er konnte super zeichnen und war ein sehr guter Tänzer", erinnert sich Şen. Das künstlerische Potenzial der Gangmitglieder sei damals von der Gesellschaft nicht wahrgenommen worden.
Die Idee, die damalige Gang- und Jugendkultur künstlerisch wie historisch zu würdigen, entstand vor rund zehn Jahren, als Şen nach längerer Zeit aus Berlin nach Frankfurt zurückgekehrt war. In Berlin hatte er immer wieder vom Mythos der dortigen Straßengangs erfahren. "Das war wie eine Kraft, die immer vorhanden war in einem bestimmten Milieu", sagt der Künstler.
Davon fasziniert wollte Sen die Frankfurter Gangkultur wieder in Erinnerung rufen und dem heutigen Publikum nahebringen. "Mir war es wichtig, dass ich Menschen zusammenbringe", erklärt Şen. "Die Ausstellung ist für mich ein interaktives Agieren." Mit einem von ihm gemalten Werk hätten die Leute sicher keinen Zugang zu dem Thema gehabt, so Sen.
Alte Feindschaften überwunden
Die letzten drei Jahre widmete sich Sen deshalb ganz der Realisierung der Ausstellung, die vom Integrationsdezernat der Stadt unterstützt wird. Şen sammelte Fotos von Freunden und ehemaligen Rivalen. Seit seinem Ausstieg aus der Szene Mitte der neunziger Jahre sind fast 20 Jahre vergangen.
Dieser zeitliche Abstand hat es ihm ermöglicht, ehemalige Mitglieder auch aus gegnerischen Gangs anzusprechen und nach Zeitdokumenten zu fragen. "Natürlich waren alle zuerst misstrauisch, was ich denn damit vorhabe", erzählt Sen. "Das liegt auch daran, dass viele in den neunziger Jahren abgeschoben wurden in Länder, die sie selbst auch nicht kannten, weil sie hier geboren waren", so der 33-Jährige. "Ich musste deshalb auch sensibel mit dem Thema umgehen."
Neben der Hiphop-Musik, dem Breakdance und der Graffiti-Kunst war auch die Kleidung ein wichtiger Teil der Gangkultur. Ihren symbolischen Charakter veranschaulichen vier lebensgroße Puppen, die Bomberjacken der Frankfurter Gangs tragen. Auf den ersten Blick eine Form der Mode, doch beim genaueren Hinsehen wird deutlich, dass die verschiedenen Jackenfarben und Accessoires wie eine aufgenähte Länderflagge demonstrieren, zu welcher Gang man gehörte.
Von "Straßenbanden" bis zum "Straßenkrieg"
Zu Beginn waren die Gangs zunächst relativ harmlose Zusammenschlüsse, bald ging es für viele Mitglieder um Leben oder Tod. Die kriminelle Entwicklung der Gangs wird nicht nur an Baseballschlägern, Klappmessern oder Kampfhunden deutlich, die auf manchen Fotos demonstrativ zur Schau gestellt werden. Auch Zeitungsausschnitte, als Kopien vergrößert, berichten vom Gewaltpotential der Gangmitglieder.
Eine Kurzmeldung erzählt, dass eine Bande von 30 Jugendlichen einen jungen Mann in der Straßenbahn ausgeraubt und brutal verprügelt hat. Zeitungsartikel über das Phänomen der "Straßenbanden" veranschaulichen, wie sehr sich die Gesellschaft davon bedroht fühlte. Sogar von "Straßenkrieg" ist da die Rede. Zur Erklärung werden unter anderem Perspektivlosigkeit der Jugendlichen und Versagen der Politik genannt.
"Wer ist Opfer, wer ist Täter?"
Ergänzend zu den Zeitungsberichten sind in einer Vitrine Relikte der Gewalt wie Schlagwaffen und Messer aus dieser Zeit ausgestellt, die zum Teil starke Gebrauchsspuren aufweisen. Sen ist es gelungen, die Zeit der Straßengangs nicht zu glorifizieren oder zu romantisieren. "Man darf in dieser Geschichte keine Opfer sehen", so Sen, "es gibt keine Opfer. Wer ist Opfer, wer ist Täter? Ich finde, das ist eine Frage von Außenstehenden. Ich bin selbst auch verprügelt worden. War ich dann ein Täter, nur weil ich mich gewehrt habe? Aber in anderen Situationen war ich Täter." Das sei damals wichtig gewesen, um sich vor den anderen zu beweisen. "Heute bin ich einfach nur froh, dass ich noch lebe."
Ein Bericht von Meliha Verderber, 6.05.2012
Quelle: www.hr-online.de/website/rubriken/kultur/index.jsp
FRANKFURTER GANGS
Stadtgeschichte aus neuer Perspektive -
Die Amigos gehörten Anfang der 80er zu den ersten Gangs in Frankfurt.
Eine Ausstellung in Frankfurt versucht, einen etwas anderen Blick auf die Stadt zu werfen. Sie widmet sich ganz der Gangkultur der 80er und 90er Jahre, die von der Öffentlichkeit vor allem mit Kriminalität in Verbindung gebracht wurde.
Wir erzählen hier im Grunde Stadtgeschichte“, sagt Felicia Herrschaft. „Nur eben aus der Perspektive der Subkultur.“ Die Soziologin ist Mitinitiatorin der Ausstellung „Abgerippt!“, die ab morgen im Pavillon der momentan leerstehenden Friedrich-Stoltze-Schule gezeigt wird.
Der Ort ist nicht nur passend, weil der Künstler Bobby Borderline alias Oguz Sen, der die Ausstellung gestaltet hat, eine Zeit lang die ehemalige Hauptschule an der Seilerstraße besucht hat, sondern auch, weil der Namensgeber Friedrich Stoltze zu seiner Zeit ein echter Rebell war: „Würde Stoltze heute leben, wäre er wahrscheinlich Rapper“, lacht Felicia Herrschaft. Rap, Breakdance, Graffiti – all das waren laut Oguz Sen zentrale Elemente der berüchtigten Frankfurter Gangkultur, zu der auch er als Jugendlicher in den Neunzigern gehörte.
Nicht beschönigen - umfassend aufzeigen
In der Öffentlichkeit wurde die Szene allerdings vor allem über Kriminalität, Gewalt und Drogengeschichten wahrgenommen – was nicht verwundert, wenn man sich die Fotos anschaut, die Sen mit Hilfe ehemaliger Gangmitglieder in den vergangenen drei Jahren gesammelt hat. Gruppen von Jungs, aufgestellt wie fürs Klassenfoto, aber in betont lässiger Haltung und zum Teil mit Kampfhunden, Waffen in den Händen und vermummten Gesichtern.
Zeitungsausschnitte von damals zeigen zudem, wie furchtsam die Stadtgesellschaft auf die Aktionen der Gangs blickte. Da ist von Messerstechereien vor dem Bockenheimer Depot die Rede und von einem Angriff auf Passanten in der Innenstadt. Auch fürs „Abrippen“ anderer Jugendlicher, um an sonst unerreichbare Statussymbole zu gelangen, waren die Gangs berüchtigt.
Die Ausstellungsmacher wollen nichts davon beschönigen, schon deswegen nicht, weil Sen weiß, welch trauriges Ende es mit vielen der damals Beteiligten genommen hat: „Hier hängt ein Foto, auf dem 12 Leute zu sehen sind, die alle nicht mehr leben.“ Schuld war meist Heroin, das in den 90ern so gang und gäbe gewesen sei „wie heute bei Kids das Kiffen“.
Ganz klar: Wer diese Jacke trug, musste ein „Turkish Power Boy“ sein.
Gleichzeitig zeigt die außergewöhnliche Ausstellung aber auch, welche Kreativität in der Frankfurter Gangkultur steckte. Es entwickelte sich in diesen Jahren eine ganz eigene Ästhetik, die von US-Filmen aus dem Hip-Hop- und Bandenmilieu inspiriert war, aber auch eine starke Eigendynamik entwickelte. Zu welcher der vielen Gangs man gehörte, zeigte man durch Symbole, Kleidung, Accessoires.
Amigos und Adlerfront
Um das zu demonstrieren, hat Sen Bomberjacken in unterschiedlichen Farben in die Ausstellung aufgenommen. Die bordeauxfarbene mit einem aufgenähten türkischen Halbmond wies ihren Träger als Mitglied der „Turkish Power Boys“ aus. Der Tiger auf Petrol stand für „Le Mur“ und die Koreaflagge auf der olivgrünen Bomberjacke trugen die „Korea Boys“. Ein Foto zeigt das Zeichen der „Amigos“, laut Sen die allererste Gang, die Anfang der 80er in Frankfurt entstand. „Das waren die Kinder spanischer Gastarbeiter.“
Doch der Reflex, bei Gangs sofort an „die Ausländer“ zu denken, sei falsch: „Die Geschichte der Frankfurter Gangs ist nicht nur Migrantengeschichte.“ Es habe auch viele Deutsche gegeben, die organisiert waren, so etwa die rechtsorientierten Hooligans von der „Adlerfront“.
Die Entstehung der Gangkultur in den frühen Achtzigern habe zudem viel weniger mit Nationalismus zu tun gehabt als mit der Solidarität zum eigenen Stadtteil. Interessant ist, dass die meisten Gangs nicht aus heute so bezeichneten „sozialen Brennpunkten“ kamen, sondern aus Bornheim, Bockenheim und dem Nordend.
Die Herkunft der Gangnamen ist zum Teil nur schwer nachzuvollziehen.
Dass die nationale Herkunft irgendwann eine wichtige Rolle bekam, hat nach Ansicht Oguz Sens mit den rechtsradikalen Anschlägen von Mölln und Solingen zu tun: „Wir haben gesehen, da werden Leute wie wir ermordet. Da wollten wir Flagge zeigen.“ Philipp von Leonhardi, ebenfalls Mitveranstalter, stellt die Gangbildung in einen noch weiteren gesellschaftlichen Kontext: „Es gab damals überhaupt kein Konzept, wie man mit den Kindern der Gastarbeiter umgehen sollte, keine ,Willkommenskultur‘, keine Förderung, keine Perspektiven.“
Projekte wie „Abgerippt!“ könnten helfen, Zusammenhänge verständlich zu machen: Deswegen ist er der Stadt Frankfurt dankbar, die die Ausstellung „großzügig unterstützt“.
www.fr-online.de/frankfurt/frankfurter-gangs-stadtgeschichte-aus-neuer-perspektive,1472798,15117938.html
ABGERIPPT! - Zurück zur den Wurzeln
Der Künstler Oguz Sen arbeitet seine Vergangenheit in Bornheimer Gangs auf. Er hat viele Menschen verloren, die damals wichtig für ihn waren – durch Drogen, Gewalt oder durch Abschiebung.
Immer wieder hört man, welch unangenehme Stadt Frankfurt noch vor 20 Jahren gewesen sei: „ Die Kriminalität, die Bausünden“, heißt es dann. Oguz Sen sieht das anders. Er liebt die Stadt und liebte sie schon in den 90er Jahren.
„Das war eine spannende Zeit – Frankfurt war Hochburg der Linken und der Gangs. Hier hat es richtig gebrodelt.“ Oguz Sen ist in Bornheim geboren und mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Alle Söhne waren in Gangs aktiv. Wenn man ihn fragt, warum, zuckt er mit den Schultern. Zwar erzählt er von der Perspektivlosigkeit seiner Jugend und dem schlechten Gefühl, 30 Jahre lang im eigenen Pass als „Gastarbeiterkind“ abgestempelt zu werden, aber er sagt auch: „Dass ich in die Gangszene eingestiegen bin, hatte anfangs nichts mit Rassismuserfahrungen zu tun. Es lief eher darüber, ob man auf Hip-Hop und bestimmte Filme stand.“
Nachdem der Vater früh gestorben war, sei seine Mutter mit der Erziehung der sechs Kinder überfordert gewesen: „Sie wollte uns schützen, aber dazu hatte sie alleine nicht genug Kraft.“
Sen hat viele Menschen verloren, die damals wichtig für ihn waren – durch Drogen, Gewalt oder durch Abschiebung. Deswegen war die Arbeit an „Abgerippt!“ für ihn eine hochemotionale Angelegenheit: „Als ich das erste Mal die fertige Ausstellung gesehen habe, hätte ich heulen können.“
Er selbst hat Glück gehabt, ist physisch unbeschadet aus der Szene rausgekommen und arbeitet heute, mit Anfang 30, als freischaffender Künstler. Seine Wurzeln hat er in der Street Art, der „Kunst der Straße“, die ihn auch nach dem Ende des Ganglebens weiter beschäftigte. Als er eines Tages bei einer Ausstellung, die ein Freund organisierte, zwei Räume gestaltete, entdeckte ihn Heiner Blum, Professor an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach. „Ich wollte zuerst nicht, aber irgendwann hat er mich überredet, mich dort zu bewerben.“
Künstler trifft auf „Hardcore-Widerstände“
Doch an der HfG fühlte Sen sich zunächst gar nicht wohl: „Lauter Künstler-Kids, die abstrakt daherredeten.“ Überhaupt habe er mit der ganzen Kunsttheorie wenig anfangen können: „Ich konnte damals ja kaum richtig schreiben. Ich habe keinen Abschluss und bin nach der 8. Klasse nie wieder zur Schule gegangen.“ Vor allem der Fotograf Daniel Herrmann, ein ehemaliger HfG-Student, hat ihn motiviert, trotzdem bei der Kunst zu bleiben. „Er hat mich auch auf die Idee gebracht, diese Ausstellung in Angriff zu nehmen.“ Das war zunächst nicht so einfach, denn Sen traf bei der Recherche für Bilder und andere Relikte aus der damaligen Zeit zum Teil auf „Hardcore-Widerstände“: „Viele konnten nicht verstehen, warum ich das mache.“ Doch mit der Zeit fand er, was er suchte – auch weil viele, mit denen er früher verfeindet war, zu Freunden geworden sind.
Für Sen ist klar, dass er sich weiter damit beschäftigen will, diesen völlig unerforschten Teil der Frankfurter Stadtgeschichte aufzuarbeiten. Unter anderem auch, weil es zwar Gangs in dieser Form nicht mehr gebe, aber viele Jugendliche in den Vororten immer noch die Probleme hätten, die er damals hatte: „Sie sind nur nicht mehr so sichtbar wie früher, als wir mitten in der Stadt unterwegs waren.“
Alicia Lindhoff, Datum: 3 | 5 | 2012
www.fr-online.de/frankfurt/abgerippt--zurueck-zur-den-wurzeln,1472798,15118010.html
GANGS OF FRANKFURT- Abgerippt – Ein Kunstprojekt
Bobby Borderline, Frankfurter Kulturschaffender, präsentiert ab dem 5. Mai die Schau "Abgerippt" im Pavillon der ehemaligen Friedrich-Stoltze-Schule und gibt Einblick in die Frankfurter Gangszene.
Oguz Sen alias Bobby Borderline hat nach fast dreijähriger Recherche sein Projekt "Abgerippt" beendet. Zusammen mit Leonhardi Kulturprojekte konnte er seine Arbeit über die Frankfurter Jugend- und Gangkultur der 80er und 90er Jahre realisieren und stellt diese nun im Pavillon seiner ehemaligen Schule, der Friedrich-Stoltze-Schule, aus. Betritt man den genannten Pavillon ist man umzingelt von Originalfotos aus der damaligen Zeit. Die Aufnahmen zeigen Jungs und Mädchen, die sich in Szene setzen und Stärke zeigen, die sich mit Schlagstöcken präsentieren oder wie auf einem Thron auf einer Mauer stehen. Sie zeigen Jungs und Mädchen, um die der eine oder andere einen weiten Bogen machen würde - und damals gemacht hat. Neben den Bildern zeigt der Künstler auch prestigebehaftete Kleidung, wie vier Bomber-Jacken, die so in den verschiedenen Gangs getragen wurden. Die Jacken sehen sich relativ ähnlich, allerdings sind sie genau gekennzeichnet. Zum Beispiel mit einer türkischen Flagge am rechten Oberarm für die "Turkish Power Boys". Die Jacken gehörten wie die Gruppen selbst zur Identifikation der Jugendlichen. Ebenso zieren diverse Graffiti aus der Feder beziehungsweise Dose des Künstlers den Ausstellungsraum mit den Bandenlogos. Die Gangs existieren schon lange nicht mehr, sie starben Mitte der 90er mehr oder weniger aus. Bis zum 20. Mai leben sie im Pavillon der Friedrich-Stolze-Schule wieder auf.
Für Bobby Borderline ist es ein sehr emotionales Projekt. Er kennt die Menschen auf den Bildern, weiß um ihr Schicksal. Seinen Respekt zollt er seinen Ausstellungsobjekten, indem er sie anonymisiert. Bei seiner Recherche waren nämlich nicht alle sofort begeistert und gewillt in ihren Archiven nach alten Bildern zu suchen. Es war eine schwierige Zeit, auch wenn die Jugendlichen auf den Fotos selbstzufrieden wirken. Zwar haben es welche "geschafft" und führen heute ein normales Leben, doch viele andere leben entweder nicht mehr, wurden aufgrund ihrer kriminellen Karriere abgeschoben oder verpassten den Einstieg ins regelkonforme Leben. Dass sich die Ausstellung um eine kriminelle Szene dreht, verrät bereits ihr Titel, "Abgerippt". Man bestahl besser betuchte Kids, die gute Schuhe trugen oder eine hübschere Jacke besaßen und nahm sich so sein Stück vom Kuchen. Diese Beschaffungskriminalität radikalisierte sich mit der Zeit. Man griff sich bald gegenseitig an und teilte die Stadt unter sich auf. Den Respekt und die Akzeptanz, die der Gesellschaft nicht abzugewinnen war, forderte man unter seinesgleichen ein. Durch Gewalt, Diebstahl oder auch Breakdance und Graffiti. Bobby Borderline weist darauf hin, dass auch heute noch ähnliche, abgeschwächte Phänomene existieren. Heute sind die "Problemgruppen" jedoch an die Randgebiete gedrängt. In den 80ern und 90ern kämpfte man um Bornheim, Bockenheim oder das Nordend. Heute attackieren sich Jugendliche in Sossenheim oder Nied.
Bobby Borderline zeigt das Bild einer Jugendkultur auf, die geprägt war von Migration, Ablehnung und der daraus resultierenden Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft. Die Jugendlichen, die sich damals in Gangs zusammenschlossen, waren meist Kinder von "Gastarbeitern". So stigmatisierte man sie und weil man bekanntlich nicht davon ausging, dass sie bleiben würden, hat man sie nicht angemessen in die Gesellschaft eingeführt. Das Stigma existierte sogar schwarz auf weiß, so stand auf den Pässen der zweiten Generation "worker's child". Auch auf dem Pass des Künstlers Bobby Borderline. Über eigene Aktivitäten in einer Gang spricht er nicht, nur dass ihn Filme wie "Colors - Farbe der Gewalt" oder "Die Warriors" geprägt haben. Und er erzählt, dass er die Friedrich-Stoltze-Schule nur bis zur achten Klasse besuchte. Auch er kam damals nicht in der Gesellschaft Deutschlands an, obwohl er in Frankfurt geboren wurde. Die Frage, woher er kommt, beantwortet er mit "Ich bin weder deutsch, noch türkisch! Meine Herkunft ist Bornheim, meine Heimat ist Frankfurt." Die Frage, warum er sich nicht deutsch fühlt mit einem Verweis auf seine Haare und der Aufforderung "Guck mich doch an!".
Heute studiert der 34-Jährige an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach. Sein Talent und seine Kreativität konnten seinen Schulabbruch wettmachen. Er hatte das Glück, vielen Förderern zu begegnen. So zum Beispiel Heiner Blum, der ihn dazu ermutigte, sich an der HfG zu bewerben oder auch Felicia Herrschaft, Andreas Bohn und Philipp von Leonhardi, die sich hinter Leonhardi Kulturprojekte verbergen. Ihnen liegt die Verbindung von Soziologie und Kunst am Herzen. Bei dieser Ausstellung ginge es um eine Erweiterung des Kunstbegriffs, so Philipp von Leonhardi. Die einzelnen Fotos seien keine Kunstwerke. Die Recherche, die Auseinandersetzung mit dem Material und die Zusammenfügung ergeben zusammen das Kunstwerk. Am 5. Mai, ab 19 Uhr, wird die Ausstellung mit einer Vernissage und anschließenden Party eröffnen. Der Pavillon der Friedrich-Stoltze-Schule in der Seilerstraße 36 wird dann bis zum 20. Mai Ort des Geschehens bleiben.
4. Mai 2012 Yohana Gebrihiwet
www.journal-frankfurt.de
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